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Preserve, Repair or Rebuild?

Preserve, Repair or Rebuild?

Eine Diskussion vorgeschlagener Reformoptionen für den europäischen Strommarkt

Neues Policy-Paper der österreichischen Energieagentur im Auftrag des BMK

Die Verteuerung von Brennstoffen seit Sommer 2021 – Erdgas und viele Substitute davon betreffend – hat auch die Stromerzeugung in Europa stark verteuert. Diese Entwicklung hat sich im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der daraus folgenden Sorgen über die Versorgungssicherheit ab dem darauffolgenden Februar deutlich intensiviert. Der vorläufige Höhepunkt der Preisentwicklungen im kurzfristigen Großhandelsmarkt war August 2022. Nach einer kurzfristigen Entspannung im Frühherbst 2022 und einem erneuten Anstieg zum Jahresende hat sich der Strompreis seit Jahresbeginn 2023 stabilisiert, liegt jedoch wie der Gaspreis weiterhin um mehr als das Doppelte über dem langjährigen Mittel.

Der Ruf nach einer langfristigen Reform des Strommarkts führte im Juni 2022 zu einer vielbeachteten Rede der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im europäischen Parlament und in der Folge zur Einleitung eines EU-Reformprozesses zur Veränderung des europäischen Strommarktdesigns.

"Gas ist am teuersten, und es bestimmt den gesamten Strompreis. Dieses Marktsystem funktioniert nicht mehr. Wir müssen es reformieren. Wir müssen es an die neuen Realitäten der dominierenden erneuerbaren Energien anpassen. Das ist die Aufgabe, die die Kommission jetzt übernommen hat. Das ist nicht trivial. Es handelt sich um eine gewaltige Reform. Sie wird Zeit brauchen. Sie muss gut durchdacht sein. Aber wir müssen einen Schritt nach vorne machen, um unseren Strommarkt an die modernen Bedingungen anzupassen."

Den Vorschlag, wie diese Reform aus Sicht der Europäischen Kommission ausgestaltet sein soll, hat Energiekommissarin Kadri Simson am 14. März 2023 anhand der relevanten Richtlinien und Verordnungen präsentiert. Die österreichische Energieagentur ordnet diese Vorschläge in diesem neuen Paper im Auftrag des Bundesministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie ein und diskutiert Auswirkungen und den weiteren Bedarf nach Reformen.

Verschiedene Blickwinkel auf den aktuellen Zustand des europäischen Strommarktes bestimmen die Debatte.

In der generellen öffentlichen Debatte um Reformoptionen für das Strommarktdesign spiegeln sich Ansichten für und gegen kurzfristige Eingriffsmöglichkeiten, langfristige Anpassungen und der Wunsch nach dem Erhalt funktionierender Marktkomponenten wider.

Grundsätzlich lassen sich in der aktuellen Debatte drei verschiedene gewünschte Intensitätsgrade von Marktanpassungen unterscheiden.

  1. Rebuild: eine grundsätzlichere Reform beziehungsweise Neuaufsetzung der zugrundeliegenden Marktsegmente
  2. Repair: die Reparatur und Anpassung des aktuellen Strommarktdesigns, z. B. durch Ergänzung neuer Instrumente
  3. Preserve: der Verzicht auf umfangreiche Veränderungen des bestehenden Strommarktdesigns mit allenfalls geringen Korrekturen

Die Positionen zu diesen drei Reform-Intensitätsgraden gingen in den letzten Monaten zwischen verschiedenen Ökonom:innen und EU-Mitgliedstaaten weit auseinander. In unterschiedlichen Staaten zeigten sich jeweils unterschiedliche Probleme und Interessenslagen. Dem entsprechend ist auch eine Vielzahl an unterschiedlichen – oft divergierenden – Lösungsvorstellungen in den europäischen Verhandlungsprozess eingeflossen. Die Suche nach einem konsistenten Set von Marktdesignoptionen zu verschiedenen Fragestellungen ist komplex. Diese Komplexität zeigt sich auch im Vorschlag der Europäischen Kommission zur Reform des Strommarktdesigns.

Der Reformentwurf der Europäischen Kommission enthält Maßnahmen mit unterschiedlichen Intensitätsgraden.

Man kann einige Handlungsfelder ableiten, in denen die aktuell vorgeschlagene Strommarktreform bereits aktiv langfristige Änderungen in der Dynamik der Energiemärkte bewirken würde. Hierzu gehört insbesondere die Reform des Fördersystems erneuerbarer Energien mithilfe von Contracts-for-Differences (CfDs). Der Vorschlag sieht vor, neue Anlagen auf Vollkostenbasis langfristig in das Energiesystem einzubinden und den Stromkund:innen gleichzeitig einen Teil der durch diese Anlage generierten Wertschöpfung zurück zu erstatten. Auch die angedachte Einführung von regionalen Virtual Hubs kann ein einflussreiches Instrument sein. Durch die Gründung virtueller regionaler Knotenpunkte soll der Langfristhandel zwischen mehreren Preiszonen vereinfacht werden, sodass sich grenzüberschreitende Leitmärkte mit einer höheren Liquidität und somit aussagekräftigeren Preisen herausbilden können.

Abbildung 1: Einordnung von Designelementen des Vorschlags der EU-Kommission anhand ihrer Intensitätsgrade
Quelle: Eigene Darstellung

Grafische Darstellung der Intensitätsrade von Martkanpassungen. 1.	Rebuild: eine grundsätzlichere Reform beziehungsweise Neuaufsetzung der zugrundeliegenden Marktsegmente 2.	Repair: die Reparatur und Anpassung des aktuellen Strommarktdesigns, z. B. durch Ergänzung neuer Instrumente 3.	Preserve: der Verzicht auf umfangreiche Veränderungen des bestehenden Strommarktdesigns mit allenfalls geringen Korrekturen.

Gleichzeitig wurden Rahmenbedingungen für verschiedene zusätzliche Marktelemente und Maßnahmen geschaffen, die in weiten Teilen auf Freiwilligkeit beruhen – somit wird den Mitgliedstaaten zwar größere Entscheidungsfreiheit eingeräumt, allerdings wird auch kein starker Beitrag in Richtung einer europäischen Harmonisierung des Strommarktes geleistet. Die grundlegende Gestaltung der Kurzfristmärkte („Day-Ahead-Auktion“, „Merit Order“, „Uniform Pricing“ …) und der europäischen Marktkopplung soll nicht verändert werden. Preisentlastungsmaßnahmen sind nur im Endkund:innenmarkt vorgesehen. Es werden in Summe Reparaturen vorgenommen, aber kein grundlegender Neubau durchgeführt.

Erreichung weiterer Ziele: Festschreibung von Konsument:innenrechten ja, Erhöhung der Marktzugänglichkeit und -transparenz eher nein

Mit der Reform sollen neue Möglichkeiten für Konsument:innen geschaffen werden, die bislang noch nicht in allen Mitgliedsstaaten existierten. Dazu gehören das Recht auf „Energy Sharing“, das Recht auf einen Versorger letzter Instanz, das Recht auf Fixpreistarife, das Recht auf mehrere Stromverträge und Zählpunkte, sowie die Verhinderung von Stromabschaltungen bei vulnerablen Kund:innen.

Zwar wird mit Power Purchase Agreements (PPAs) ein Instrument des Risikomanagements in den Fokus der Reform gestellt, die Zugänglichkeit dieser Bezugsverträge erscheint für kleinere industrielle oder gewerbliche Energiekunden und Haushalte jedoch unverändert niedrig. Der vereinfachte Zugang zum Großhandelsmarkt für kleinere Marktteilnehmer könnte hinsichtlich der Liquiditätssteigerung und Aussagekraft von Großhandelsergebnissen vorteilhaft sein. Dazu zeigt der Reformvorschlag aber keine konkreten Ansatzpunkte. Auch ein europaweiter Netzkostenausgleich, z. B. für Stromtransitregionen und Regionen mit überdurchschnittlichem Erneuerbaren Ausbau, sowie ein vereinfachter Zugang zu Kompensationsmitteln beim Erneuerbaren- und Netzausbau für betroffene Bürger:innen wäre ein hilfreiches Instrument zur Reduktion von Widerständen gegen notwendige Ausbauprojekte.

Neben fehlenden Verbesserungen, um den Zugang zum Strommarkt für kleinere Akteure niederschwelliger zu gestalten, bestehen aktuell auch große Defizite hinsichtlich Transparenz. Relevante Marktinformationen sind nicht, oder nur mit hohem Suchaufwand verteilt auf verschiedensten Portalen auffindbar. Vorschläge zur Behebung dieses Defizits finden sich im Vorschlag der EU-Kommission nicht.

Weitere Reformansätze für die erneuerbar dominierte Energiewelt nach 2030 sollten schnell entwickelt werden.

Mittelfristig sollten weitere Reformschritte eingeleitet werden, damit das Design des Strommarkts langfristig den Anforderungen eines vollständig auf der Basis fossilfreier - hauptsächlich erneuerbarer – Erzeugung basierenden Stromsystems gerecht wird. Hierzu sollten geeignetere Ansätze zur besseren Integration von Kapitalkosten in die Vergütung von Neuinvestitionen gefunden werden. Was uns die aktuelle Energiepreiskrise bezüglich der Akzeptanz und Auswirkungen von Hochpreisphasen ebenfalls gelehrt hat: Eine weitere Fokussierung ausschließlich auf Preissignale des Energy-Only-Markts zur Finanzierung von Neuinvestitionen in Flexibilität sollte kritisch hinterfragt werden. Diese Preissignale waren in Normalzeiten nicht ausreichend, um Investitionen anzureizen – und führten in Hochpreisphasen zu enormen Verwerfungen politischen Interventionen.

Die Diskussion und die Entscheidungsfindung für das Marktdesign nach 2030 muss angesichts der langwierigen Umsetzung von strukturellen Reformen jetzt gestartet werden – denn kein Markt kann langfristig gut funktionieren, wenn die regulatorische Zukunft unbekannt ist.
 

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Ansprechpersonen

Mitarbeiterfoto Christian Furtwängler

Senior Expert | Energy Economics

Christian Furtwängler, MSc

E-Mail Adressechristian.furtwaengler@energyagency.at
Mitarbeiterfoto von Karina Knaus

Head of Center Economy, Consumers & Prices

Karina Knaus, PhD

E-Mail Adressekarina.knaus@energyagency.at